Buchrezension: Der Wahnsinn der Normalität
Arno Gruen (1989): Der Wahnsinn der Normalität – Realismus als Krankheit: eine Theorie der menschlichen Destruktivität. Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 16. Auflage (2009).
Thema dieses Buches ist die angebliche Gesundheit von Menschen, welche den Zugang zu ihrem echten inneren Selbst verloren haben und sich auf ein „manipuliertes“, sich der Umwelt angepasstes Selbst beziehen. Sie präsentieren aufgesetzte Gefühle als ihre eigenen und sagen sich von ihren wahren Gefühlen los und beugen sich der herrschenden Ideologie von Macht und Unterwerfung. Diese Unfähigkeit in sich selbst zu wurzeln ruft bei diesen Menschen zerstörerisches und böses Verhalten hervor, denn nur noch Destruktivität kann das Gefühl des eigenen Lebendigseins vermitteln. Paradoxerweise sind es genau solche Menschen, welchen wir die Macht anvertrauen. Denn wir denken, dass sie den richtigen Zugang zur Realität haben, übersehen jedoch, dass sie uns nur ein Schauspiel präsentieren und nur aus Imagegründen scheinbar mitfühlende Handlungen vollziehen. – Der Wahnsinn der Normalität.
Der Autor spricht nicht von einem klinischen Wahnsinn, sondern er versteht Wahnsinn im Sinne von Unmenschlichkeit, die allerdings nicht als solche erkannt wird und deswegen so viele Menschen zerstört. Nur Menschen, welche unempfindlich für den Schmerz von anderen sind, können diese töten oder diese im alltäglichen Konkurrenzkampf ausschalten.
Mit den Bedingungen, wie im Kindesalter Autonomie entsteht und sich ein lebendiger Austausch zwischen der Welt und dem Kind anbahnt, beschreibt der Autor die psychologischen Ursachen einer gesunden oder eben einer fehlgeleiteten Entwicklung des Menschen. Er geht in diesem Buch davon aus, dass sich die seelische Entwicklung nach innen oder nach aussen entfalten kann. Wenn ein Kind mit Liebe aufgezogen wird, wenn es sich selbst entfalten kann und wenn es Hilflosigkeit und Kraftlosigkeit als etwas erlebt, womit es nicht alleingelassen wird, und wenn es durch Leid und Schmerz hindurch zu neuer Kraft finden kann, so nimmt die Entwicklung die Richtung zum Inneren (S. 31). Wenn aber ein Kind mit Verbitterung und Hass aufwächst, wenn das Kind zu unrecht bestraft und zu totalitärem Gehorsam erzogen wird, oder aber auch wenn das Kind nicht mit authentischer Liebe aufwächst, wenn beispielsweise einem Kind das Gefühl vermittelt wird, es sei wichtiger als der Vater, ja sogar das wichtigste auf der Welt, wird ihm eine Wichtigkeit vermittelt, die das Kind gar nicht haben kann. Das Versprechen auf solche Macht, beziehungsweise Mächtigkeit verschleiert dem Kind das ausbeutende Verhalten der Mutter und seine eigene Hilflosigkeit (S. 51). Wird einem Kind suggeriert, es habe übergrosse Bedeutung für die Mutter, entwickelt es nicht nur einen hemmungslosen Grössenwahn, sondern auch eine gesteigerte innere Leere (S. 157). Arno Gruen stellt in diesem Buch auch einen Zusammenhang zwischen dem plötzlichen Kindstod und fehlendem Vertrauen und Zuwendung fest.
Menschen, so Arno Gruen, welche diese fehlgeleitete Entwicklung erlitten haben, deren Entwicklung also nach aussen gelenkt wurde, jenen Leuten ist das Vermögen abhanden gekommen, die eigenen Gefühle wahrzunehmen und so auch die Begabung zu wirklichem Mitgefühl und echtem Mitfühlen und das Problem ist, dass der Akt der Selbstunterwerfung, den Selbstverrat, den man an sich begangen hat, einzugestehen keine lapidare Angelegenheit ist. Denn der Selbstverrat selbst beruht auf einem tiefsitzenden Selbsthass und dieser Selbsthass wird umso nachhaltiger unterdrückt je mehr die Selbstunterwerfung zur Entwicklung einer fremden Identität geführt hat. Kriegsführer machen und machten sich genau diesen Hass auch zu Nutze, indem sie ihn nach aussen lenken und lenkten. Das krasseste Beispiel dafür ist Nazideutschland. Arno Gruen zitierte die Aussage von Klaus Barbie, dem Gestapo-Schlächter von Lyon, der den Widerstandskämpfer Jean Moulin zu Tode folterte: “Als ich Jean Moulin vernahm, hatte ich das Gefühl, dass er ich selbst war.” Die These von Arno Gruen lautet: “(Fremden-)hass hat immer etwas mit Selbsthass zu tun. Wenn wir verstehen wollen, warum Menschen andere Menschen quälen und demütigen, müssen wir uns zuerst mit dem beschäftigen, was wir in uns selbst verabscheuen.”
Arno Gruen zieht in diesem Buch zahlreiche Beispiele aus dem dritten Reich und der darauf folgenden Nürnberger Prozesse heran, um das Bild des anscheinend Normalen zu illustrieren. Er legt mit erschütternder Deutlichkeit dar, welche abscheulichen und grausamen Folgen der Verrat am eigenen Selbst und der Verlust der Beziehung zum eigenen Inneren hat. Er zeigt auf, wie Menschen in dieser Zeit blind den Anweisungen des Naziregims folgten und Juden und behinderte Menschen auf grausamste Weise töteten, ganze Dörfer ausrotteten und eine beispiellose Jagd auf ganze Völker veranstalteten und dies mit einem solchen Gleichmut und offensichtlichen Vergnügen an Massenmord und Auslöschung, später aber zu Protokoll gaben, diese Taten nicht (mehr) verstehen zu können, nicht (mehr) zu wissen warum sie dies taten (S. 45).
Der Verfasser dieses Buches beschreibt dieses Phänomen mit „Identitätswechsel“. Denn für Menschen, welchen der Zugang zu ihrem inneren Selbst versperrt ist, also keine eigene Identität besitzen, für jene kann die Pflichterfüllung ein wünschenswerter Weg sein der persönlichen Verantwortung auszuweichen. Dieses Pflichtbewusstsein wird mit Verantwortung gleichgesetzt und pflichtbewusstes Handeln wird mit Autonomie verwechselt. Autonomie, wie sie der Autor versteht, ist ein ganzheitlicher Zustand, indem sich die Fähigkeit verwirklicht, im Einklang mit den eigenen Bedürfnissen und Gefühlen zu leben (S. 37) und aus echter Autonomie erwächst Verantwortung und auch Vernunft. Menschen die in eine Pflichterfüllung fliehen, tun diese Unterwerfung unter eine Autorität auch nicht bloss aus dem Grunde eines fehlenden selbstbestimmten Wesens, sondern ebenso um an der Macht (der anderen) zu partizipieren. Und da Pflichttreue und Pflichterfüllung für „Identität“ gehalten werden, überrascht es auch nicht, wie sich ein ganzes Land nach der Nazi-Herrschaft vom Nationalsozialismus abwandeln konnte und problemlos der neuen demokratischen bzw. kommunistischen Regierung ihre Treue schwören konnte, denn das wahre Selbst war nie wirklich beteiligt gewesen, weder damals noch heute.
Sehr eindrücklich schildert der Autor auch den Todeskult, welcher für Menschen mit einem nach aussen gelenkten Selbst eine magische Anziehung ausübt. Denn wenn Krieg, Zerstörung und auch der eigene Tod das ist, was die grösste Sicherheit bietet, dann sehnt man sich auch danach (S. 57).
Arno Gruens „Theorie zur menschlichen Destruktivität“ stellt eine wichtige Grundlage dar, um destruktiven Massenphänomenen, wie zum Beispiel dem Zweiten Weltkrieg oder dem historisch inkludierten Holocaust verständlicher zu machen.
Nach all den vielen Fakten und Beispielen für die menschliche Destruktivität, welche Arno Gruen in diesem Buch aufzeigt, scheint die von ihm vorgeschlagene Lösung beinahe etwas kitschig: Er fordert dazu auf, unser Handeln endlich darauf zu gründen, was uns unser Gefühl und unser Herz sagen.
Obwohl das Buch Ende der 70er Jahre entstanden ist, ist es immer noch aktuell und auf heutige Vorkommnisse anzuwenden. Das KZ-Lager beispielsweise mit Guantanamo und auch die zutreffenden Vermutungen, welche Arno Gruen über Nixon zu Papier brachte, lange bevor die Tonbandaufzeichnungen auftauchten, die belegen, dass Herr Nixon nur zu bereitwillig und bedenkenlos die Atombombe in Vietnam eingesetzt hätte. Ebenfalls eindrücklich beschreibt Arno Gruen in diesem Buch eine Welt, in der die Informationsdichte und Informationsgeschwindigkeit so hoch ist wie nie zuvor (S. 188) und dies noch lange bevor das erste Byte das Internet erreicht hat.
Leider beschreibt Arno Gruen in diesem Buch die Rolle der Frau eher konventionell, was insbesonders im Kapitel „Männlicher Mythos und weiblicher Selbstwert“ hervorgeht, aber auch immer wieder Thema im Buch ist. Zum einen ist dies sicherlich dem Alter des Buches, aber natürlich auch dem Alter des Autors zuzuschreiben, zum anderen waren aber auch zu dieser Zeit bereits Kulturen bekannt, in welchen Frauen das Sagen haben, wie beispielsweise die Mosuo.
Insgesamt aber ist das Buch sehr angenehm zu lesen und gut verständlich und in einer wissenschaftlich passablen Sprache geschrieben. Gerade die vielen Beispiele helfen dem Leser die Komplexität seiner Theorie zu verstehen.
Neben einem ausführlichen Vorwort, in dem Arno Gruen die nachfolgenden Kapitel beschreibt, und dem Leser erklärt, was er von diesem Buch zu erwarten hat, bedient sich der Autor in diesem Buch vieler dokumentierter Vorkommnisse und vertieft diese auch zum Teil in den nachfolgenden Kapitel, was das Lesen sehr angenehm und kurzweilig erscheinen lässt.
Arno Gruen schildert in diesem Buch die beiden Entwicklungsrichtungen als Pole, welche entweder als ein Unabhängiges, dem Inneren zugewandten Selbstbild oder als ein Interdependentes, ein nach aussen zugewandtes Selbstbild existieren. Er lässt keinen Status zu, welcher sich zwischen den beiden Polen bewegt. Auch beschreibt er, dass es kaum Wege gibt (ausser mit psychotherapeutischen Methoden) ein nach aussen gelenktes Selbst in ein nach innen gelenktes Selbst zu wandeln. Dies mag für die geneigte Leserin, den geneigten Leser etwas radikal erscheinen, gerade wenn man bedenkt, dass sämtliche Anhänger des Naziregims ein nach aussen gelenktes Selbst hätten haben müssen und dieses immer noch mit sich tragen.
Arno Gruen ist sich auch nicht zu schade, frühere Studien und Analysen von anerkannten Psychoanalytikern, wie beispielsweise Alexander und Margarete Mitscherlichs Arbeit: „Die Unfähigkeit zu trauern“ kritisch zu hinterfragen und gegebenenfalls auch in seinem Sinne zu berichtigen.
Leider lässt Arno Gruen auch einen charakteristisch amerikanischen Stil in diesem Buch erkennen. Die oftmalige Wiederholung von bereits publizierten und anerkannten Forschungserkenntnissen bagatellisieren in keiner Weise die Leistungen seiner Arbeit, produzieren aber einen etwas nach Sensation heischenden Geschmack in seinem Buch, der die Dinge auch nicht wahrer macht, als sie letzten Endes sind. Auch die Auseinandersetzung mit den Psychogrammen bekannter Nationalsozialisten schlägt ein wenig in diese Scharte und lässt oft eine unwissenschaftliche Note in seinen Analysen aufkommen.
Wer sich für die Destruktivität in dieser Welt interessiert, sich vielleicht auch ein Stück weit seiner eigenen Destruktivität stellen möchte, dem sei dieses Buch ans Herz gelegt.
Arno Gruen ist 1923 in Berlin geboren und emigrierte 1936 in die USA, 1961 promovierte er als Psychoanalytiker. Er ging verschiedenen Tätigkeiten als Professor und Therapeut an verschiedenen Universitäten und Kliniken nach, daneben führte er ab 1958 eine psychoanalytische Privatpraxis. Arno Gruen starb am 20. Oktober 2015 in Zürich.